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Erdogan-Gegner in Deutschland Tritte Richtung Fernseher

Hassan, Kemal, Mara und Shirin sind Türken, in Deutschland zu Hause - und Kritiker von Präsident Erdogan. Am Wahlabend schwanken sie zwischen Wut und Verzweiflung. Ein Hausbesuch.
Berichterstattung über die Wahlen in der Türkei (Symbolbild aus Berlin)

Berichterstattung über die Wahlen in der Türkei (Symbolbild aus Berlin)

Foto: Paul Zinken/ dpa

Hassan stürmt von der Couch zum Fernseher, reißt das Bein hoch wie zum Karatetritt, stoppt nur wenige Zentimeter vor dem Bildschirm und entlädt seine Wut in einem Fluch: "Fick dich, du Schwein!", brüllt er den Moderator an.

Es ist Sonntagabend irgendwo in Stuttgart. Hassan, seine Frau Shirin und ein befreundetes Pärchen, Kemal und Mara, gucken die türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im TV. Die Anzeige auf dem Bildschirm zeigt an, dass bereits 93 Prozent der Stimmen ausgezählt seien, der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan liegt klar vorn.

Dann kommt die Meldung, dass zwar 93 Prozent der Urnen geöffnet sind, aber erst etwas über die Hälfte der Stimmen ausgezählt. Vor allem die Oppositionshochburgen fehlten noch.

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Foto: REUTERS/Kayhan Ozer/Presidential Palace

Die Zahlen kommen von der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Die Freunde sind sich sicher, dass es ein Trick ist, um den Wahlausgang zu manipulieren. Daher ist die Stimmung im Wohnzimmer ähnlich aufgeheizt wie beim Weltmeisterschaftsspiel Deutschland - Schweden in der 93. Minute, bloß mit dem großen Unterschied: Wie das heute Abend ausgeht, ist tatsächlich wichtig.

Noch haben Hassan und die anderen große Hoffnungen - die Opposition ist stärker als in der Vergangenheit. Sie setzen darauf, dass Erdogan seine Parlamentsmehrheit verliert und bei den Wahlen um das Präsidentenamt in die Stichwahl muss. Dann, so ihre Hoffnung an diesem Sonntagabend, könnten sich alle Oppositionsparteien um den gleichen Kandidaten scharen, und vielleicht geschähe ein Wunder: Erdogan würde nach 16 Jahren seine Macht verlieren.

Oder aber es endet für sie in der Katastrophe und Erdogan gewinnt auf voller Linie. Weil er kürzlich die Verfassung ändern ließ, hätte er dann so viel Macht wie kein türkisches Oberhaupt seit Staatsgründer Kemal Atatürk.

"Dann werde ich meinen nächsten Urlaub in der Türkei canceln", sagt Hassan. "Ich werde meine türkische Staatsbürgerschaft abgeben und die deutsche beantragen", sagt sein Freund Kemal. Ihre Frauen nicken. Sie alle haben Angst. Deshalb sind alle Namen in dieser Reportage geändert.

Alle vier kamen als Kinder mit ihren Eltern aus der Türkei nach Deutschland, wuchsen hier auf, arbeiteten sich hoch. Hassans Wohnzimmer ist großzügig geschnitten, klare Formen dominieren den weißen Wohnzimmertisch, die Einbauküche, den langen Esstisch. Die vier Freunde sprechen mit schwäbischem Akzent, Hassan beendet viele Sätze mit einem nachgeschobenen "weischt?"

Im Video: Wahl im Staat Erdogan

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Oft fliegen sie in die Türkei, Verwandte besuchen. Frei fühlen sie sich dort nicht mehr. Vor der Abreise löschen sie kritische Kommentare von ihren Facebook-Seiten, verlassen WhatsApp-Gruppen, weil der türkische Geheimdienst am Flughafen Smartphones durchsucht. Sitzen sie in einem Restaurant und Kemal fängt an zu politisieren, stößt seine Frau Mara ihm einen Ellenbogen in die Seite.

Dass so viele Menschen Erdogan verehren, können sie nicht verstehen. Ja, er baue Brücken und Flughäfen, aber das tue er ja mit Steuergeldern. Gleichzeitig stürzt die Lira ab und die Staatsverschuldung explodiert. Und überhaupt: Er hetze die Menschen in der Türkei gegeneinander auf, teile sie in Gläubige und Ungläubige, sperre politische Gegner ein und schließe unliebsame Medienhäuser.

Schwanken zwischen Wut und Scham

Hassans Vorbild für die Türkei ist die Wohnanlage, in der er wohnt. Er zeigt vom Balkon auf die umliegenden Wohnungen und zählt auf: da wohnt ein chinesischer Ingenieur, da ein palästinensischer, weiter hinten ein Portugiese, ein Italiener, ein Bosnier und zwischendurch wehen Deutschlandfahnen von den Balkonen. "Die Menschen hier leben friedlich miteinander und sind frei, ich liebe Deutschland", sagt er. "Aber in der Türkei könnte ich im Knast landen."

Deswegen schöpfen die vier auch Hoffnung, als um kurz nach neun bekannt wird, dass die gezählten Stimmen ein anderes Bild ergeben, als das von der staatlichen Anadolu propagierte. Erdogan erreiche nur 44, sein Herausforderer 40 Prozent, damit käme es zur Stichwahl. Kemal checkt auf seinem Handy Twitter. Da ist ein Foto, auf dem das Innere einer Turnhalle zu sehen ist, auf dem Boden liegen dutzende Säcke mit Wahlzetteln, sie alle seien noch nicht ausgezählt. Woher und von wann das Foto stammt, lässt sich nicht überprüfen.

Mara checkt den Instagram-Account einer Verwandten in Ankara, findet ein Video aus einem Wahllokal. Menschen schreien, versuchen eine Tür zuzudrücken, andere stemmen sich dagegen. Wieder geht es um Wahlzettel. Auf einem anderen Video schlägt ein Mann das Fenster eines Busses ein, der Wahlzettel zur Auszählungsstelle transportieren soll und dessen Besatzung sich augenscheinlich weigert, alle Säcke einzuladen.

Die vier schwanken zwischen Wut und Scham. "Das ist wie in Palästina, nicht wie in einer funktionierenden Demokratie", sagt Kemal.

Dazu kommt auf allen Plattformen der immer gleiche Appell von Oppositionspolitikern: Leute, geht nicht nach Hause, bewacht die Stimmzettel, lasst euch nicht betrügen, sie wollen uns die Wahl klauen. Und tatsächlich sind die vier Freunde vorsichtig optimistisch. Die Menschen seien noch nie so überzeugt für ihre Sache eingetreten.

Dann, um 21.34 Uhr, tritt Erdogan vor die Kameras und hält eine kurze Ansprache. Er sagt, das Volk habe ihm den Regierungsauftrag gegeben, dankt den Wählern im In- und Ausland für ihr Vertrauen.

Mara stöhnt auf, schlägt die Hände vors Gesicht. Kemal wischt hektisch über sein Handy, schreibt WhatsApp-Nachrichten, telefoniert mit Freunden. Sie verstehen nicht, was da los ist, es seien doch noch lange nicht alle Wahlzettel ausgezählt.

Es folgen Stunden bangen Wartens, in denen der Oppositionsführer Muharrem Ince ankündigt, bald eine Rede zu halten, in denen Erdogan seine offizielle Siegesrede verschiebt, in denen in Ankara die ersten Menschen auf der Straße protestieren und ihre Wut in die Nacht brüllen. Hassan sagt: "Was bringt das schon? Nachher kommt nur wieder die Polizei und erschießt Leute."

"Das war ein Putsch"

Kurz vor Mitternacht geht alles ganz schnell, Erdogan scheint die Wahl für sich zu entscheiden. Die ersten deutschen Medien vermelden Erdogans Sieg, nur wenige schreiben, er habe sich selbst zum Sieger erklärt.

Der türkische Fernsehmoderator liest eine SMS vor, in der steht, die Opposition habe Erdogans Sieg anerkannt, auch die Wahlkommission äußert sich ähnlich. Dann endet das Fernsehprogramm, es folgt eine Comedyserie.

Kemal versteht nicht, was gerade passiert, kann es nicht fassen. "Sich zum Präsidenten zu erklären, wenn erst so wenige Stimmen ausgezählt sind, das geht nicht mit rechten Dingen zu tun", sagt er. "Das war ein Putsch."