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Sterilisierung von Frauen Die weltweit häufigste Verhütungsmethode ist irreversibel – und gefährlich

Nicht Kondom oder Pille, sondern die Sterilisierung von Frauen ist für Länder wie Indien das effizienteste Mittel der Geburtenkontrolle. Mancherorts werden die Eingriffe wie am Fließband durchgeführt – teils mit fatalen Folgen.
Eine Datenanalyse von Vivien Götz
Fast jede dritte erwachsene Inderin ist sterilisiert

Fast jede dritte erwachsene Inderin ist sterilisiert

Foto: Rajesh Kumar Singh / AP
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

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25 Euro, damit sie nie wieder schwanger werden: So viel Geld erhalten Frauen in Indien umgerechnet von ihrer Regierung, wenn sie sich sterilisieren lassen. Es ist als Kompensation für Reisekosten und Lohnausfälle gedacht – aber auch als Anreiz. Seit den Siebzigerjahren versucht Indiens Regierung auf diese Weise, das Bevölkerungswachstum zu senken.

Mit Erfolg: Die Sterilisierung von Frauen ist inzwischen die meistgenutzte Verhütungsmethode im Land – und die Geburtenrate ist signifikant gesunken. Fast 30 Prozent der indischen Frauen im gebärfähigen Alter gaben 2019 an, sterilisiert zu sein. 17 Prozent verwenden andere Verhütungsmethoden; 45 Prozent gaben an, gar nicht zu verhüten beziehungsweise keinen Bedarf zu haben; acht Prozent würden gern verhüten, haben aber keinen Zugang zu entsprechenden Mitteln.

Und Indien ist keine Ausnahme: Weltweit verhüten mehr Frauen mittels Sterilisation als mit Kondomen oder der Pille. Es ist die am häufigsten angewandte Verhütungsmethode – nicht zuletzt, weil sie in bevölkerungsreichen Ländern wie Indien und China weitverbreitet ist. Allein 2019 ließen sich nach Schätzungen der Vereinten Nationen mehr als 200 Millionen Frauen weltweit sterilisieren.

In China, in Puerto Rico, aber auch in den USA und Kanada lag der Anteil an sterilisierten Frauen zuletzt zwischen 18 und 31 Prozent, zeigt eine Metaanalyse im Rahmen des »Global Burden of Disease«-Projekts der Weltbank, die im Magazin »The Lancet« veröffentlicht  wurde. Das liegt vor allem daran, dass andere Verhütungsmethoden in diesen Ländern oft nicht verfügbar oder zu teuer sind. Und dass sich Männer weltweit nur selten sterilisieren lassen.

Weil Frauen deshalb oft die Wahlfreiheit fehle und der Eingriff beispielsweise in Indien aus politischen Gründen gefördert wird, sehen Expertinnen ihn kritisch: »Für die Politik ist Verhütung vor allem ein Mittel zur Kontrolle von Bevölkerungswachstum«, sagt Mona, eine Forscherin, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Programm für nachhaltige Entwicklung der Observer Research Foundation in Delhi arbeitet. Aus persönlichen Gründen führt sie keinen Nachnamen.

In Indien ist die Zahl der Kinder pro Frau zwischen 1971 und 2016 von 5,2 auf 2,3 gesunken – eine positive Entwicklung aus Sicht der Regierung. Die Politik vergesse angesichts dieser Zahlen aber, was Sterilisation für viele Frauen bedeute, kritisiert Mona.

Der Eingriff, bei dem durch eine Operation die Eileiter durchtrennt oder verödet werden, kann in der Regel nicht rückgängig gemacht werden. Außerdem ist er mit größeren medizinischen Risiken verbunden als andere Methoden. »Verhütungsmittel sollen nicht nur funktionieren. Sie müssen auch sicher und praktisch sein, und ihre Anwendung darf die Menschen nicht entwürdigen«, sagt die indische Wissenschaftlerin.

Sterilisationen wie am Fließband

Weil das nicht garantiert ist, stehen die staatlich geförderten Sterilisationsprogramme Indiens immer wieder in der Kritik. Der Staat finanziert neben dem Bonus für die Frauen nämlich auch die meisten Kliniken, in denen die Operation vorgenommen wird. Vor allem im ländlichen Raum sind das laut der Forscherin oft sogenannte Massensterilisationszentren. Immer wieder gibt es Berichte, wonach Frauen dort wie am Fließband sterilisiert werden und den Eingriff aufgrund der schlechten medizinischen Versorgung nicht überleben.

Inderinnen in einem Krankenhaus in Bilaspur im November 2014, nachdem sie sich einer Sterilisation unterzogen haben

Inderinnen in einem Krankenhaus in Bilaspur im November 2014, nachdem sie sich einer Sterilisation unterzogen haben

Foto: AP

2016 hat das indische Verfassungsgericht daher in einem Urteil die Regierung angewiesen, alle Sterilisationszentren zu schließen. Zuvor waren innerhalb von drei Jahren mehr als 300 Frauen in den Einrichtungen gestorben. Indischen Medien zufolge sind solche Kliniken dennoch weiterhin in Betrieb.

Bis heute ist weibliche Sterilisation für die indische Regierung die effizienteste Art der Geburtenkontrolle. Hinzu kommt, wie Mona sagt: »Familienplanung ist in Indien Frauensache«, Kampagnen für Verhütungsmittel würden sich fast ausschließlich an Frauen richten, und obwohl die finanzielle Kompensation für Vasektomien meistens höher ist als für weibliche Sterilisationen, ist der Eingriff kaum verbreitet.

Neu-Delhi, November 2014: Proteste gegen die staatliche Sterilisationskampagne, nachdem erneut Dutzende Frauen gestorben waren

Neu-Delhi, November 2014: Proteste gegen die staatliche Sterilisationskampagne, nachdem erneut Dutzende Frauen gestorben waren

Foto: Manish Swarup / AP

Das hat auch historische Gründe. In der Zeit des nationalen Ausnahmezustandes zwischen 1975 und 1977 wurden in Indien innerhalb kürzester Zeit Millionen Männer zwangssterilisiert. Seitdem sind Vasektomien auch politisch ein Tabuthema. »Über männliche Sterilisation wird kaum gesprochen«, sagt Mona, »teilweise liegt das an der Geschichte, aber es gibt auch ein gesellschaftliches Stigma, dass der Eingriff einen Mann in seiner Männlichkeit und seiner ›Standfestigkeit‹ beschädigt.«

Dass Vasektomien stigmatisiert sind und Verhütung vor allem ein Frauenthema ist, kann man weltweit beobachten.

»Die Popularität von weiblicher Sterilisation ist ein Indikator für Armut und für einen mangelnden Zugang zu guter Gesundheitsversorgung«, sagt Laura Briggs, Professorin für internationale Gesundheitsversorgung und Reproduktionspolitik an der Universität Massachusetts Amherst. »Sterilisation ist oft nur dann die beste Verhütungsmethode, wenn die Umstände sie dazu machen.«

Das gelte beispielsweise auch für die USA. Dort seien immer mehr Menschen von Armut und schlechter medizinischer Versorgung betroffen. »Wenn regelmäßige Arzttermine für verschreibungspflichtige Verhütungsmittel nicht möglich sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass ich mich für eine Methode entscheide, bei der es nur einen Termin braucht.«

Frauen in San Juan, der Hauptstadt Puerto Ricos

Frauen in San Juan, der Hauptstadt Puerto Ricos

Foto: Marica van der Meer / Arterra/Universal Images Group / Getty Images

Wie wirkmächtig soziale und historische Umstände sind, zeigt sich in Puerto Rico. Das Land hat seit Jahren die weltweit höchste Sterilisationsquote. »Frauen in Puerto Rico sind so vertraut mit dem Eingriff, dass er dort nur ›La Operaciòn – die Operation‹ genannt wird«, sagt Iris Lopez, Professorin für die Puerto-ricanische Diaspora und Sterilisationsmissbrauch am City College in New York City.

Die Kolonisierung der Insel durch die USA hat daran einen großen Anteil. Bis in die Siebzigerjahre wurde ein Drittel der Frauen auf Puerto Rico im Rahmen eines US-finanzierten Programms sterilisiert. Aus Sicht Washingtons waren die Entwicklungsprobleme der lateinamerikanischen Insel vor allem auf die hohe Geburtenrate zurückzuführen. Viele der betroffenen Frauen wurden nicht ausreichend aufgeklärt und hielten die Operation für reversibel, anderen wurde der Eingriff aufgezwungen.

Nicht nur die Folgen des Sterilisationsprogramms wirken bis heute nach. US-amerikanische Pharmafirmen testeten in den Fünfzigerjahren in hohen Dosen den Pillenwirkstoff Progesteron auf Puerto Rico. »Viele Frauen wurden damals krank und litten unter Nebenwirkungen«, sagt Iris Lopez. Die Pille und andere moderne Verhütungsmethoden hätten deshalb lange einen schlechten Ruf gehabt.

Erst seit Mitte der 2000er-Jahre geht der Anteil der Sterilisationen auf Puerto Rico langsam zurück. Hohe Kosten, Bürokratie und eine mangelnde Infrastruktur erschweren den Menschen aber immer noch den Zugang zu anderen Verhütungsmitteln. Für Iris Lopez stellt sich noch eine andere Frage: »Können wir in einem kolonialen Kontext, in dem Sterilisation so lange als einzige Methode gefördert wurde, überhaupt von einer freien Entscheidung sprechen?«

Grenze zur Zwangssterilisation verschwimmt

»Einverständnis ist bei weiblichen Sterilisationen oft eine Grauzone«, sagt die indische Forscherin von der Observer Research Foundation. In Indien seien vor allem arme Frauen aus niedrigeren Kasten oder mit geistigen Einschränkungen betroffen. »Die Frauen werden gar nicht ausreichend aufgeklärt, um eine informierte Entscheidung treffen zu können«, sagt sie.

Auch in anderen Ländern trifft es häufig sozial benachteiligte Frauen: Der Eingriff wird dann oft im Anschluss an Geburten mit Kaiserschnitt vorgenommen, dann, wenn die Frauen erschöpft sind und kaum widersprechen können. Manchmal durchtrennen die Ärzte auch einfach den Eileiter, solange der Bauchraum der Frau noch geöffnet ist.

Während in den USA Zwangssterilisationen gerichtlich angeordnet werden können, berichten in Kanada bis heute vor allem Ureinwohnerinnen, dass sie gegen ihren Willen sterilisiert werden, obwohl die Praxis gegen kanadisches Recht verstößt. Eine betroffene Frau gab für einen Untersuchungsbericht des kanadischen Parlaments zu Protokoll: »Mir war überhaupt nicht klar, was mit mir gemacht wurde, bis ich mich in einer Fruchtbarkeitsklinik untersuchen ließ um herauszufinden, warum ich nicht schwanger wurde. Mir wurde dann gesagt, dass meine Gebärmutter teilweise entfernt worden ist.«

Die Dominanz von weiblicher Sterilisation erklären solche Übergriffe aber nicht. Iris Lopez hält die Diskussion über mögliche Ursachen für polarisiert – Frauen würden entweder als völlig freie Individuen oder als Opfer ihrer Umstände gesehen. Die Wahrheit liegt für Lopez dazwischen: »Frauen versuchen, unter repressiven Umständen die für sie beste Entscheidung zu treffen.«

Laura Briggs sieht das ähnlich: Solange Staaten den Zugang zu bestimmten Verhütungsmitteln erschweren und Menschen mit den Kosten für Arzttermine, mit der Kinderbetreuung und mit der Sorgearbeit alleinließen, seien wirklich freie Entscheidungen in Verhütungsfragen nicht möglich.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

Transparenzhinweis: Ein Teil der hier verarbeiteten Daten stammt aus einer Metaanalyse für das »Global Burden of Disease«-Projekt, die von der Bill & Melinda Gates Foundation finanziert wurde.