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Liverpools Stadionsprecher "Ich will einfach nur zurück nach Anfield"

Seit fast 50 Jahren ist George Sephton die Stimme des FC Liverpool im Stadion. Hier spricht er über die Corona-Zwangspause, Jürgen Klopp und das Champions-League-Halbfinale gegen Barcelona.
Ein Interview von Hendrik Buchheister, Manchester
"Anfield ist ein besonderer Ort", sagt Liverpools Stadionsprecher George Sephton

"Anfield ist ein besonderer Ort", sagt Liverpools Stadionsprecher George Sephton

Foto: PETER POWELL/EPA-EFE/Shutterstock

SPIEGEL: Herr Sephton, der Fußball pausiert wegen der Coronakrise. Wie sehr vermissen Sie ihn schon?

Sephton: Bislang noch gar nicht. Meine Frau ist diese Woche 80 geworden. Da war viel zu tun. Eine Torte besorgen, Geschenke kaufen - natürlich online. Ich gehöre ja in meinem Alter zur Risikogruppe. Ihren Geburtstag haben wir bei Skype und anderen Messengern verbracht, damit sie mit ihren Kindern und Enkeln sprechen konnte. Ich komme erst jetzt dazu, mich ein bisschen zu organisieren. Ich sitze an meinem Schreibtisch und bereite schon einmal die Playlist für das nächste Heimspiel vor.

SPIEGEL: So weit denken Sie schon? Welche Lieder wollen Sie denn im ersten Spiel nach der Corona-Pause spielen?

Sephton: "Happy" von Pharrell Williams steht auf der Liste. "I will survive" würde natürlich super passen. "Let's get this party started" von Pink. Und "19" von Paul Hardcastle. Wenn wir Meister werden, wäre es unser 19. Titel. 

SPIEGEL: Der FC Liverpool ist mit riesigem Vorsprung Tabellenführer. Die erste Meisterschaft seit 30 Jahren ist Formsache - falls die Saison zu Ende gespielt wird. Daran glauben Sie?

Sephton: Es gehen diese ganzen Geschichten rum, dass die Saison abgebrochen werden soll. Falls das passiert, würde es einen Aufstand in Liverpool geben. Die Liga will die Saison zu Ende spielen. Das ist schon einmal ein gutes Zeichen. Die Uefa hat die EM verschoben, im Sommer wäre also Zeit. Selbst, wenn wir jeden Tag ein Spiel absolvieren müssten - Hauptsache, wir kommen über die Ziellinie.

George Sephton ist an der Anfield Road der Herr über die Lautsprecher

George Sephton ist an der Anfield Road der Herr über die Lautsprecher

Foto: Privat

SPIEGEL: Jürgen Klopp hat den Verein im vergangenen Jahr zum Champions-League-Titel geführt. Wäre er mit der Meisterschaft endgültig ein großer Liverpool-Trainer? 

Sephton: Das ist er schon jetzt. Er hat viele Gemeinsamkeiten mit Bill Shankly (Liverpools Trainer-Ikone in den Sechzigerjahren und frühen Siebzigerjahren, d. Red.). Beide sind so getrieben, so entschlossen, so fokussiert und charismatisch. Beide haben eine besondere Aura. In meinem Alter erinnern sich noch viele Leute an Shankly. Alle sagen, dass Klopp ihm am nächsten kommt.

SPIEGEL: Kennen Sie Klopp persönlich?

Sephton: Oh ja. Ich kann mich noch gut an unser erstes Treffen erinnern. Nach seinem ersten Heimspiel sind wir uns zufällig über den Weg gelaufen. Ich nutzte die Gelegenheit und sagte: "Entschuldigen Sie, Herr Klopp, ich wollte mich mal vorstellen. Mein Name ist George…" Weiter kam ich nicht. Seine Augen leuchteten und er sagte: "Ah, die berühmte Voice of Anfield." Ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes meinte danach zu mir: "Der Typ ist erst ein paar Tage hier und kennt jeden. Nicht nur die Spieler, sondern auch die Dame, die den Tee macht, den Platzwart, alle Mitarbeiter im Büro." Brendan Rodgers (Klopps Vorgänger) war drei Jahre hier, und ich bin sicher, dass er meinen Namen nicht kannte. Jürgen ist anders. Ich frage mich manchmal, ob er überhaupt schläft.

SPIEGEL: Warum zweifeln Sie daran?

Sephton: Er ist immer so voller Leben. Wenn der Tag kommt, an dem er Liverpool verlässt, hoffe ich, dass man ihn einfach ans nationale Stromnetz anschließt. Mit seiner Energie könnte er das ganze Land versorgen.

SPIEGEL: Sie sind seit fast 50 Jahren Stadionsprecher und DJ in Anfield. Wie hat sich Ihr Job in dieser Zeit verändert?

Sephton: Der Spieltag ist komplett anders. Früher bin ich mit einer großen Kiste Schallplatten gekommen. Jetzt habe ich nur noch einen USB-Stick mit Musik. Als ich anfing, kam ich anderthalb Stunden vor dem Spiel. Heute muss ich viereinhalb Stunden vor Anpfiff da sein. Fragen Sie nicht, warum. Immerhin habe ich mittlerweile einen eigenen Parkplatz. Seitdem es den VAR gibt, muss ich die Anzeigetafel nicht mehr selbst bedienen. Das erleichtert meine Arbeit. 

Liverpools Stadionsprecher (l.) mit dem ehemaligen Spieler Dietmar Hamann

Liverpools Stadionsprecher (l.) mit dem ehemaligen Spieler Dietmar Hamann

Foto: Privat

SPIEGEL: Sind Sie fest beim Verein angestellt?

Sephton: Nein, ich bin als Gelegenheitsarbeiter klassifiziert. Laut dem Pass, den ich am Spieltag trage, bin ich ein Ordner. Das ist lustig. Meine Frau scherzt immer, dass später auf meinem Grabstein steht: "Ich bin kein verdammter Ordner."

SPIEGEL: In Anfield weiß doch sicher jeder, wer Sie sind. 

Sephton: Das sollte man denken. Aber es gibt auch immer wieder neue Mitarbeiter beim Sicherheitsdienst, die mich nicht kennen und mich nicht zu meiner Sprecherkabine durchlassen wollen. Ich hole dann tief Luft und sage: "Die Nachspielzeit beträgt zwei Minuten. Zwei Minuten." Dann wissen sie, wer ich bin.

SPIEGEL: Fast 50 Jahre Stadionsprecher in Liverpool heißt auch: fast 50 Jahre "You'll never walk alone". Langweilt Sie das Lied nicht langsam?

Sephton: Nein, nie. Auch wenn ich es im Radio höre, stellen sich meine Nackenhaare auf. Es verbindet uns alle und hat eine Bedeutung über den Fußball hinaus. Wenn vor dem Spiel der erste Ton aus den Lautsprechern kommt und alle Leute ihre Schals erheben, ist das eine echte Erfahrung. Manchmal trifft mich dieser Moment selbst immer noch, und ich denke: "Wow, das ist unglaublich."

SPIEGEL: Anfield ist ein Mythos. Es heißt, das Stadion könne Spiele gewinnen. Warum ist das so?

Sephton: Die Atmosphäre ist besonders. Die Akustik ist sehr gut. Das Stadion ist sehr laut. Es macht dem Gegner Angst.

An der Anfield Road hört man an jedem Spieltag George Sephtons Stimme

An der Anfield Road hört man an jedem Spieltag George Sephtons Stimme

Foto: Jon Super/ AP

SPIEGEL: Das Santiago Bernabéu in Madrid, das Westfalenstadion in Dortmund oder das Old Trafford in Manchester können ebenfalls einschüchternd sein. 

Sephton: Absolut. Aber Anfield ist ein besonderer Ort. Das Stadion lebt. Meine Tochter hat vor einer Weile eine Bekannte aus Amerika mitgenommen, die unbedingt mal ein Spiel sehen wollte. Als sie an ihrem Platz ankam, ist sie in Tränen ausgebrochen. Sie war so überwältigt. 

SPIEGEL: Sie sprechen bei Ihren Ansagen immer mit ruhiger Stimme, anders als viele Stadionsprecher in Deutschland. Werden Sie nie emotional?

Sephton: Oh, doch. Denken Sie an einen Schwan. Ein Schwan sieht immer ruhig und gelassen aus. Aber unter Wasser rudert er wie verrückt mit den Füßen. So bin ich auch. Nur zweimal habe ich die Fassung verloren: 2004, als Steven Gerrard uns gegen Olympiakos mit einem Traumtor vor dem Vorrunden-Aus in der Champions League bewahrt hat. Und nach dem 1:0-Erfolg im Halbfinalrückspiel gegen Chelsea in der gleichen Saison. Das war die beste Atmosphäre, die ich in Anfield erlebt habe. Bis dahin.

Liverpooler Ekstase nach dem Halbfinalsieg gegen den FC Barcelona

Liverpooler Ekstase nach dem Halbfinalsieg gegen den FC Barcelona

Foto: Phil Noble/ REUTERS

SPIEGEL: Im vergangenen Jahr kam ein weiteres großes Champions-League-Halbfinale dazu. 

Sephton: Barcelona, das größte Spiel überhaupt! Zwei unserer besten Spieler fehlten (Mohamed Salah und Roberto Firmino waren verletzt, d. Red.), wir mussten ein 0:3 aus dem Hinspiel aufholen und das gegen einen der größten Klubs des Planeten. Niemand gab uns eine Chance. Dann traf Divock Origi früh, und ich dachte: "Ok, das wird interessant."

SPIEGEL: Liverpool gewann 4:0 und zog ins Finale ein.

Sephton: Wissen Sie, wo meine Sprecherkabine ist? Zwischen der Haupttribüne und der Kop-Tribüne. Bei manchen Spielen kann ich hören, wie die Leute mit ihren Füßen stampfen. Es wird dann sehr laut. Aber in dieser Nacht hat meine Kabine richtig gezittert. Es war ein ganz anderes Level an Aufregung. Nach dem Spiel habe ich noch einmal "You'll never walk alone" gespielt. Ich dachte, danach würden die Zuschauer nach Hause gehen. Aber niemand hat sich bewegt. Ich hatte keine Musik mehr auf meinem Stick, nur noch ein paar CDs für den Notfall, unter anderem die "Greatest Hits" von John Lennon. Also habe ich "Imagine" angemacht. In den Tagen danach habe ich Mails aus der ganzen Welt bekommen. 

SPIEGEL: Fanpost?

Sephton: Am besten gefiel mir eine Zuschrift aus Australien. Ein Typ schrieb mir, dass das Spiel dort am Vormittag lief, die ganzen Kneipen seien voll gewesen mit Schafsbauern, richtig starke Kerle. Am Ende hätten alle "Imagine" gesungen und geweint. Besser wird es im Leben nicht.

SPIEGEL: Vielleicht doch? Wenn Liverpool Meister wird?

Sephton: Hoffen wir, dass es so kommt. Ich hatte schon die ganze Saison das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren würde. Ich weiß auch nicht, warum. Als das Virus kam, dachte ich: "Ist es das, wovor ich Angst hatte?" Ich will einfach nur, dass wir die fehlenden Punkte holen. Ich will einfach nur zurück nach Anfield.