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Literatur Actionszenen der Weltliteratur (6)

Als Mary Shelley ihr Monster traf

Feuilletonredakteur
UNSPECIFIED - JANUARY 09: Villa Diodati, near Geneva, where Lord Byron, Mary Shelley, Percy Shelley and John Polidori stayed in 1816 creating the literary characters of Dracula and Frankenstein, engraving by William Purser. Paris, Bibliothèque Des Arts Decoratifs (Library) (Photo by DeAgostini/Getty Images) UNSPECIFIED - JANUARY 09: Villa Diodati, near Geneva, where Lord Byron, Mary Shelley, Percy Shelley and John Polidori stayed in 1816 creating the literary characters of Dracula and Frankenstein, engraving by William Purser. Paris, Bibliothèque Des Arts Decoratifs (Library) (Photo by DeAgostini/Getty Images)
Die Villa Diodati am Genfer See in einer Darstellung von William Purser
Quelle: De Agostini/Getty Images
Es ist der 18. Juni 1816: Ein Vulkanausbruch verdüstert den Himmel. Am Genfer See lädt ein diabolisch wirkender Mann zur Geisterstunde. Die Folge: Geschrei, eine grässliche Vision und ein Jahrhundertbuch.

Es ist der 18. Juni 1816, aber sogar der Sommer spielt verrückt. Im Jahr zuvor hat sich auf der fernen Insel Sumbawa der Höllenschlund eines Vulkans geöffnet. Jetzt sieht es sogar am idyllischen Genfer See so aus, als habe der Teufel zum Weltuntergang geladen.

Womöglich ist er sogar höchstpersönlich angereist: Ein wildfunkelnder Mann mit Hinkebein, der sein Alter eben erst mit „hundert“ angegeben hat, Knochen aus dem Beinhaus von Waterloo verwahrt und an jenem 18. Juni seine zartbesaiteten Gäste mit grausen Versen quält.

Portrait of the poet Lord George Noel Byron (1788-1824). Private Collection. (Photo by Fine Art Images/Heritage Images/Getty Images)
Lord George Noel Byron (1788-1824)
Quelle: Getty Images

Die Gäste, damals blutjung, sind heute sozusagen Literaturdenkmäler: Mary Shelley, bald Autorin des „Frankenstein“; ihr Geliebter, der romantische Dichter Percy Bysshe Shelley; Claire Claremont, Marys Stiefschwester, über die Henry James später die „Aspen Papers“ schrieb, und John William Polidori, Verfasser der ersten gedruckten Vampirgeschichte der Welt, an diesem 18. Juni 1816 jedoch als Leibarzt des „hinkenden Teufels“ zugegen, für den sich der wildfunkelnde Lord George Byron zuweilen hält.

In der Villa Diodati

Byron hat die Villa Diodati am Genfer See gemietet, und er ist es auch, der vorgeschlagen hat, ein jeder von ihnen möge, solange der endlose Regen sie im Haus einsperrt, eine Gespenstergeschichte schreiben.

Seltsamerweise war die neunzehnjährige Mary Shelley die einzige Person im Raum, die sich von Byron nicht blenden lassen wollte. Claire Claremont glühte für den Lord; Percy Bysshe wärmte sich am lodernden Hass, der Byron erfüllte; Mary aber muss den wild gewordenen Mann befremdlich gefunden haben.

Sie war die Tochter einer bekannten Frauenrechtlerin und weder bereit, Byron nach seinen Vorgaben geistreich zu unterhalten, noch, wie Muriel Spark es ausdrückt, seinen Vorstellungen „von einem anhänglichen, sanften und fügsamen Weibchen zu entsprechen“.

Die Hexe im Wald

Umso befremdeter dürfte sie gewesen sein, als man sich um zwölf zur kollektiven Geisterstunde zusammenfand und – in den Worten des stets unglücklichen John Polidori – „really begann to talk ghostly“. Vielleicht waren an diesem Tag auch Drogen im Spiel, anders lassen sich die folgenden Minuten jedenfalls kaum erklären.

Mary Shelley (1797-1851). English novelist, best known for her Gothic novel Frankenstein. Portrait (1840) by Richard Rothwell (1800-1868). |
Mary Shelley (1797-1851
Quelle: picture alliance / Prisma Archiv

Stellen wir uns einen diabolischen Byron, einen berauschten Percy und eine nüchterne Mary vor, die Byron zu Beginn eine Ballade von Samuel Coleridge vortragen hört, in der ein frommes, engelsgleiches Wesen namens Christabel im Wald einer Hexe begegnet, die sie mithilfe schwarzer Magie ganz offenbar zum Äußersten zwingt, schließlich – „Behold!“ – ihren „grässlichen, entstellten, fahlen“ Busen enthüllt und …

Zu den Vorzügen von Romantikern zählt, dass sie Gefühle zeigen, Percy jedoch hat sich an diesem 18. Juni 1816 womöglich auch in den Augen seiner Gefährtin lächerlich gemacht. Denn kaum dass Coleridges Verse verklungen sind, durchbricht Percys Kreischen die Stille im Raum.

Der nächste Schrecken

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Er schlägt sich die Hände vor den Kopf und stürzt mit einer Kerze davon – verfolgt vom kundigen Polidori und seiner Geliebten, die ihm, kaum dass sie sich über ihn beugt, gleich den nächsten Schrecken einjagt. Percy glaubt eine barbusige Frau zu sehen, die, so Polidori in seinem berüchtigten Tagebuch, „Augen statt Nippeln“ hat.

Es ist bei dieser Erscheinung geblieben; Percy hat im Gespenstersommer 1816 keine Gespenstergeschichte hervorgebracht. Und auch Byron brach sein Selbstporträt bald ab: Polidori hat es übernommen und daraus seine Vampirgeschichte gestrickt.

Wirklich unsterblich aber ist in diesem Sommer Mary Shelley geworden. Sie kannte ein Monster, das Monster macht.

Alle Schriftstellerleben seien Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.

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