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Ausland Neue EU-Kommissionspräsidentin

Einen höheren Sieg hätte von der Leyen später bitter bereut

Ursula von der Leyen im Interview mit Michael Wüllenweber

Ursula von der Leyen wird die neue Präsidentin der EU-Kommission. Im exklusiven Interview mit Michael Wüllenweber spricht die CDU-Politikerin über ihre Leidenschaft für Europa.

Quelle: WELT

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Das hauchdünne Wahlergebnis mit nur neun Stimmen über den Durst war eine Überraschung, fast ein Schock. Doch es bringt der künftigen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen entscheidenden strategischen Vorteil.

Welch ein skurriler Tag im Europaparlament, was für ein Nerven-Drama für die Kandidatin und ihr Team: Am Dienstagmorgen, kurz vor der Bewerbungsrede im EU-Parlament, hatte es noch so ausgesehen, als steuere Ursula von der Leyen mit einiger Wahrscheinlichkeit auf eine Niederlage zu, wenn sie sich am Abend zur Wahl als Kommissionspräsidentin stellen würde. Zahlreiche Abgeordnete nicht nur von Grünen, Linken und Rechtspopulisten hatten sich da längst festgelegt: Daumen runter für die Deutsche. Die Verteidigungsministerin sei nicht wählbar, so die Ansage.

Doch nach einer blendenden Rede mit zahlreichen Lock-Botschaften in die linke Mitte hinein drehte sich die Stimmung, plötzlich lag spürbar mehr Wohlwollen in der Luft. Ein Teil der Sozialisten und die bis dato schwankenden Liberalen beschlossen, die 60-Jährige doch zu unterstützen. Um 18 Uhr, zum Start der Wahl, schien eine komfortable Mehrheit sicher und die Sache gelaufen. 400 Stimmen plus x, lautete die häufigste Prognose auf den Fluren des Parlaments. Die erforderliche Mehrheit wäre bei 374 erreicht, vor fünf Jahren hatte Jean-Claude Juncker 422 Stimmen eingesammelt.

Dann die Überraschung, fast ein Schock: nur 383 Stimmen, nur neun über dem Durst. Die Frau, die Europas wichtigste Behörde bis 2024 Jahre führen soll, ist nur haarscharf an der persönlichen Katastrophe vorbeigeschrammt. Hätte es unter den 732 Abgeordneten mit gültiger Stimmabgabe nur zwei Handvoll Protestwähler mehr gegeben, wäre die polyglotte gebürtige Brüsselerin ein sehr kurzes Kapitel in Europas Geschichte gewesen.

Das Beste, was von der Leyen passieren konnte

Sie hätte gedemütigt nach Hause reisen und dort umgehend als Verteidigungsministerin zurücktreten müssen. Die siebenfache Mutter wäre ab Mittwoch ohne Job gewesen – doch nun wird sie, durch magere neun Stimmen Überhang, zur mächtigsten Frau der EU. Fünf Jahre lang wird sie Europas Interessen zum Beispiel gegen US-Präsident Donald Trump oder Chinas Xi Jinping verteidigen.

Mit der Skurrilität dieser Wahl ist es damit aber immer noch nicht zu Ende. Denn seltsamerweise ist dieses überaus schwache Ergebnis das Beste, was von der Leyen überhaupt passieren konnte. Denn bei dieser Wahl kam es weniger darauf an, wie groß die Mehrheit war, als darauf, wie sie sich zusammensetzte.

Auf den ersten Blick scheint es, als unterminiere der hauchdünne Wahlausgang die Machtbasis von der Leyens von Beginn an empfindlich und mache sie zu einer schwachen Präsidentin ohne Rückhalt. Doch tatsächlich hätte die 60-Jährige mit einem deutlich höheren Ergebnis sehr viel größere Probleme gehabt. Zusätzliche Stimmen hätte sie sich nämlich durch mehr Zugeständnisse an Rechtspopulisten und Nationalkonservative einkaufen müssen. Die Strategie, mit vagen Versprechen und wolkigen Aussagen am rechten Rand um Anhänger zu buhlen, wäre von der Leyen aber auf die Füße gefallen. Es wäre ein bitterer Sieg gewesen, den sie sicher noch bereut hätte.

Nicht von den Europa-Gegnern und Spaltern auf den Schild gehoben worden

Beispiel Italien: Die rechtspopulistische Lega von Innenminister Matteo Salvini hatte damit geliebäugelt, von der Leyen zu wählen. Ihr wurde das in der vergangenen Woche auch offen signalisiert – damit wären ihr 28 Stimmen sicher gewesen. Doch dafür sollte von der Leyen zusagen, einen Lega-Politiker auf den Posten des Wettbewerbs- oder Finanzkommissars zu setzen. Sie hat das offenbar nicht getan.

Ebenso entsprach sie nicht dem Wunsch, sich mit Marco Zanni, dem Fraktionschef der Lega in Straßburg, zu treffen. Am Montag machte schließlich im Straßburger Parlament das Gerücht die Runde, die 28 Lega-Parlamentarier hätten sich nun doch zum „Nein“ entschlossen.

Ähnlich ist die Situation beim Thema Rechtsstaatlichkeit. Die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), der mehrere EU-skeptische Parteien aus Mittel- und Osteuropa angehören, hatte kaum verhohlen mehr Nachsicht bei Rechtsstaats-Verstößen verlangt. Stattdessen verkündete von der Leyen am Morgen, sogar ein zusätzliches Überwachungs- und Sanktionsinstrument einzuführen. Prompt dürften auch bei der EKR die Stimmen zusammengeschmolzen sein.

Von der Leyen knapp zur EU-Kommissionschefin gewählt

Neuen Stimmen machten den Unterschied: Ursula von der Leyen ist 13 Tage nach ihrer Nominierung als erste Frau an die Spitze der EU-Kommission gewählt worden. Sie erhielt mit 383 von 747 Stimmen äußerst knapp die notwendige absolute Mehrheit.

Quelle: WELT/Stefan Wittmann

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Die Wahl war geheim, und von der Leyen sah es pragmatisch: Wer sie gewählt hat, weiß man nicht. Eine Mehrheit ist in der Demokratie eine Mehrheit. Ihr Vorteil: Bei diesem schwachen Ergebnis kann ihr niemand vorhalten, von Europa-Gegnern und Spaltern auf den Schild gehoben worden zu sein. Die Pro-Europäer von Konservativen, Sozialisten und Liberalen kommen gemeinsam auf über 440 Mandate. Zwar gehören zur EVP 13 Abgeordnete der umstrittenen Fidesz-Partei aus Ungarn. Doch deren Votum wäre zumindest rein rechnerisch ebenso wenig nötig gewesen wie das der 16 deutschen SPD-Abgeordneten, die störrisch an ihrem Nein festhielten.

Ein stark zersplittertes Parlament, in dem alle Fraktionen Blut geleckt haben

Von der Leyen hatte sich entscheiden müssen, wie weit sie sich nach rechts traut. Stattdessen hat sie das Gegenteil getan. Sie schlug einen klar pro-europäischen Kurs ein, der sie sogar ein gutes Stück aus der Komfortzone ihrer eigenen Parteienfamilie EVP herausführte. Damit hat sie alles auf eine Karte gesetzt – und gewonnen.

Das heißt nun allerdings nicht, dass die Aufgabe, die vor von der Leyen liegt, angenehm oder gar leicht wird. Im Gegenteil spiegelt das schwache Wahlergebnis vor allem eins wider: ein stark zersplittertes Parlament, in dem alle Fraktionen Blut geleckt haben. Während die kleineren Parteienfamilien bisher neben der großen Koalition aus Christdemokraten und Sozialisten kaum Einfluss hatten, wollen nun alle ohne Rücksicht auf Verluste ihre Interessen durchsetzen.

Und im Rat der EU, also bei den Regierungschefs und Ministern aus den 28 EU-Staaten, ist das nicht anders. Es wird schwer werden für die promovierte Ärztin, wie angekündigt die tiefen Gräben zwischen Ost und West, Nord und Süd zuzuschütten. Aber zumindest hat sie die Chance, es zu versuchen. Mit zehn Stimmen weniger hätte sie nicht einmal die gehabt.

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