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Was ein „No Deal 2.0“ für Deutschland bedeutet

Boris Johnson steht vor einer vertrackten Situation Boris Johnson steht vor einer vertrackten Situation
Boris Johnson steht vor einer vertrackten Situation
Quelle: Fotos: AFP, dpa; Infografik WELT/Michael Kunter
Seit dem EU-Austritt befindet sich Großbritannien in einer Übergangsphase – alle europäischen Regeln gelten weiter bis Ende Dezember. Nun hängt alles an Boris Johnson und seiner Entscheidung. Im Ernstfall droht ein „No Deal 2.0“. Und dann?

Die tägliche Video-Pressekonferenz der EU-Kommission ist der Ort, an dem Korrespondenten in Brüssel drängende Fragen an die Behörde richten. Brüssel koordiniert in der Corona-Krise Grenzöffnungen und Urlaubsregeln, schnürt ein 750 Milliarden Euro schweres Konjunkturpaket mit zwei Dutzend Gesetzestexten und einen neuen Entwurf für den Eine-Billion-Euro-Haushalt.

Dass in der aktuellen Woche eine bedeutende Verhandlung in Sachen Brexit in die letzte Runde geht – Randnotiz. Dabei muss Boris Johnson bis Ende Juni eine Entscheidung mit potenziell gravierenden Folgen treffen. Seit dem Austritt der Briten am vergangenen 31. Januar gelten alle EU-Regeln in einer Übergangsphase weiter. Verlängert Johnson diese nicht fristgerecht, lässt er am 31. Dezember 2020 möglicherweise alle Leinen los, ohne Abkommen.

Denn auch die wichtige vierte Verhandlungsrunde hat keinen Durchbruch für ein Abkommen zwischen Brüssel und London gebracht. „Es ist meine Verantwortung, die Wahrheit zu sagen“, sagte EU-Unterhändler Michel Barnier. „Es gab in dieser Woche keine wesentlichen Fortschritte.“ Und er fügte hinzu: „Wir können nicht ewig so weitermachen.“ Trotzdem sollten die Gespräche fortgesetzt werden. Sonst droht der „No Deal 2.0“.

Was bedeutet das für Deutschland?

Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien haben durch den Brexit bereits abgenommen. Das Vereinigte Königreich stand vor der Corona-Krise in der Exportrangliste auf Platz sieben. Zum Zeitpunkt des Brexit-Referendums 2016 war es noch der fünfte Rang. Tendenz: Weiter fallend. Zudem ersetzen deutsche Firmen bisherige Zulieferer in Großbritannien durch Zulieferer in Kontinentaleuropa, weil die Lieferketten langsamer und teurer zu werden drohen.

Nun könnten erhebliche Kosten dazukommen. Gibt es keinen Freihandelsvertrag bis Ende 2020, müssen WTO-Zölle erhoben werden. Schon jetzt ist bekannt, dass London einen zehnprozentigen Zoll auf Autos erheben wird, um die eigenen Unternehmen zu schützen. Auch landwirtschaftliche Produkte werden durch geplante Importzölle teurer, zur Freude der britischen Farmer.

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Großbritannien ist allerdings abhängiger von Europa als der Kontinent von der Insel. „Ein ‚No Deal‘ hätte für Großbritannien weit dramatischere Konsequenzen als für Deutschland und den Rest Europas“, sagt Bernd Lange (SPD), Vorsitzender des Handelsausschusses im Europäischen Parlament. „Rund die Hälfte der britischen Exporte geht in die EU, aber lediglich sechs Prozent der EU-Exporte gehen nach Großbritannien.“

Welche Folgen hat das für die Briten?

Wegen der Covid-19-Pandemie prognostizieren Ökonomen den schärfsten Wirtschaftseinbruch seit 300 Jahren und ein Minus von 14 Prozent beim BIP. Ein „No Deal“ könnte weitere fünf bis sieben Prozent bedeuten. Denn ein Ende der Übergangszeit ohne Einigung könnte eine desolate Situation noch verschärfen, weil die Preise für Importgüter durch neue Zölle steigen. Zudem müssen plötzlich alle Ausfuhren und Einfuhren kontrolliert werden, was zu Lieferstaus führt.

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79 Prozent der Waren, die in den britischen Supermarktregalen liegen, kommen aus der EU. „Bei der Versorgung mit Lebensmitteln aus der EU, beispielsweise mit frischem Obst und Gemüse, kann es zu massiven Engpässen kommen. Dazu kommt, dass die britische Wirtschaft kaum Lagerkapazitäten haben wird, weil die Lagerhäuser durch das Weihnachtsgeschäft belegt sind“, sagt Sam Lowe, Handelsexperte vom Centre for European Reform. Auch könne Lowe zufolge die Versorgung der britischen Pharmahersteller mit EU-Chemikalien gefährdet sein – „just in Zeiten von Corona und der jährlichen Influenza-Welle“.

Warum geht Boris Johnson ein solches Risiko ein?

Johnson hat als „Mister Brexit“ den Vorsitz seiner Partei und die Parlamentswahl gewonnen. In den bisherigen Verhandlungsrunden hat es sein Chefunterhändler David Frost daher permanent auf Konfrontation ankommen lassen. Zuletzt kritisierte er „den ideologischen Ansatz“ Brüssels, weil die EU auf das Festschreiben fairer Wettbewerbsregeln ab 2021 besteht. London beharrt, dass es sich als nun endlich wieder souveräner Staat keinen Vorschriften unterwerfen werde, und argumentiert, die EU habe Kanada im Freihandelsabkommen auch keine Wettbewerbsvorschriften gemacht.

Für die Europäer wie SPD-Politiker Lange nicht verhandelbar: „Ein Abkommen wie mit Kanada ist für Europa nicht akzeptabel. Großbritannien könnte unter solch einem Abkommen Unternehmen mit schlechteren Arbeitnehmerrechten, lascheren Umweltstandards und niedrigen Steuern anlocken. Eine Dumping-Insel mit vollem Marktzugang, das werden wir nicht akzeptieren.“

London aber bleibt bei seiner harten Linie. „Wenn die EU nicht zu einem Abkommen bereit ist – auch gut. Wir sind jetzt ein souveränes Land und regieren uns selbst. Wir können problemlos auf Basis von WTO-Regeln handeln“, sagt der Tory-Abgeordnete Mark Francois WELT. „Das Ende der Übergangszeit am 31. Dezember ist gesetzlich festgeschrieben. Das Gesetz müsste vom Unterhaus aufgehoben werden – nicht vorstellbar.“

Raoul Ruparel, seinerzeit Europa-Berater von Ex-Premier Theresa May, sieht auch Taktik hinter dem harten Auftreten, außen- wie innenpolitisch. „Die Regierung denkt, dass der Zeitdruck im Herbst so groß wird, dass die EU Kompromisse eingeht. Gleichzeitig kalkuliert sie, dass ein ‚No Deal‘ angesichts des erwarteten Corona-Schocks im Land gar nicht so sehr zu spüren sein wird“, sagt er zu WELT. Er rät beiden Seiten bei den Verhandlungen zu Flexibilität. Ein Abschied ohne Abkommen würde beiden Seiten schaden, noch mehr im Schatten der Corona-Krise.

Warum könnte Angela Merkel eine entscheidende Rolle spielen?

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Im zweiten Halbjahr 2020 übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Da jetzt im Juni mit einem Crash zu rechnen ist, fallen die entscheidenden Verhandlungsrunden unter deutsche Führung. Das ist ganz nach Johnsons Geschmack, der es schon im Oktober 2019 auf eine Kollision hatte ankommen lassen, im letzten Moment aber eine Einigung erzielte.

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Die Frage ist, ob die an guten Beziehungen zu London interessierte Bundeskanzlerin über ihren eigenen Schatten springt und Kompromisse sucht. Sie gehörte gleich nach dem Brexit-Votum 2016 zu denen, die auf einem strengen Wettbewerbsrahmen bestanden. Noch dazu müsste sich Merkel dazu mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron anlegen, der von jeher eine harte Linie gegenüber den Briten fährt.

Aus EU-Kreisen kommen daher warnende Stimmen Richtung London. Der 2019 gefundene Kompromiss über den Ausstiegsvertrag sei für die EU-27 wichtiger gewesen als ein künftiges Freihandelsabkommen. Denn darin wurden die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien, eine offene Grenze in Nordirland und die zu zahlenden Gelder der Briten an Brüssel gesichert.

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