Nach all dem Zoff am Donnerstag wurde der EU-Gipfel am Freitag doch noch zu der erwarteten, etwas rührseligen Abschiedsveranstaltung für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). „Die meisten Leute wissen das nicht, aber Frau Merkel war so eine Kompromissmaschine“, sagte etwa Xavier Bettel, Premierminister von Luxemburg. „Also ich werde sie vermissen. Europa wird sie vermissen. Es ist eine große Persönlichkeit, die uns verlassen wird.“ Der österreichische Kanzler Alexander Schallenberg nannte Merkel einen „Ruhepol“. „Sie war zweifellos eine große Europäerin“, fügte er hinzu.
Im Konferenzraum wurde Merkel dann mit stehendem Applaus von ihren Amtskollegen verabschiedet. Ratspräsident Charles Michel sagte in seiner Ansprache, ein Gipfel ohne Merkel sei wie „Rom ohne den Vatikan oder Paris ohne den Eiffelturm“. Als Abschiedsgeschenk erhielt Merkel eine „künstlerische Darstellung“ des Brüsseler Tagungsgebäudes im Europaviertel. In ihren fast 16 Amtsjahren nahm Merkel an 107 Gipfeln teil, wie Michel vermerkte. In seiner emotionalen Ansprache sagte der Belgier, die EU werde Merkels „Weisheit“, „Nüchternheit“ und Vermittlungsgeschick noch vermissen, „besonders in schwierigen Zeiten“.
Tatsächlich war Merkels Vermittlungsgeschick auch bei ihrem letzten Gipfel gefragt, weil die EU mal wieder in heller Aufregung war. Der Streit mit Polen über Richterbesetzungen und die Entscheidung des obersten polnischen Gerichts, Artikel der EU-Verträge für hinfällig zu erklären, hatten viele europäische Offizielle als fundamentalen Angriff auf das europäische Haus verstanden. Entsprechend hart waren die Erklärungen vor dem Gipfel ausgefallen. Führende europäische Politiker, darunter auch EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU), forderten eine Aussetzung der Zahlungen aus dem Corona-Hilfspaket an Polen. „Die Union wurde niemals so radikal infrage gestellt“, schrieb Parlamentspräsident David Sassoli in einem Brandbrief an die Gipfelteilnehmer.
Merkel hatte, wie so oft, eine Mittlerposition eingenommen. Ja, Rechtsstaatlichkeit sei ein Kern des Bestands der Europäischen Union, sagte die deutsche Kanzlerin zum Beginn des Gipfels. „Auf der anderen Seite müssen wir Wege und Möglichkeiten finden, hier wieder zusammenzukommen, denn eine Kaskade von Rechtsstreitigkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof ist noch keine Lösung des Problems, wie Rechtsstaatlichkeit auch gelebt werden kann“, meinte die Kanzlerin. Will heißen: Dieses Problem muss mit einem politischen Kompromiss gelöst werden, nicht mit Ultimaten und „Erpressung“, wie Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sich zu Beginn des Gipfels beklagte.
Nach der Aussprache war der Ton deutlich gedämpfter. Der Tenor von Offiziellen: Gut, dass wir mal darüber geredet haben. Auf die Frage, ob die Kritik an Polen im Rat denn etwas bewegt habe, meinte der belgische Premier Alexander De Croo resigniert: „Um es offen zu sagen, nicht viel.“ Wie wenig beeindruckt Polens Regierungschef Morawiecki war, zeigte sich jedenfalls am Freitag, als er sich am Rande des Gipfels demonstrativ mit der rechtsnationalen, antieuropäischen Politikerin Marine Le Pen aus Frankreich traf. Einmal mehr zeigt sich, wie schwer sich die EU tut, ein Mitgliedsland zu sanktionieren, schließlich wird das dann wieder gebraucht, wenn bei anderen Themen Einstimmigkeit gefragt ist. Das zwingt die Länder zu Kompromissen. Es gibt jedem Land theoretisch aber auch die Möglichkeit, die Agenda der EU weitgehend zu blockieren und das als Drohmittel einzusetzen.
Auch beim Thema hohe Energiepreise konnten sich die Teilnehmer nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen und vergaben nur Prüfaufträge an die EU-Kommission, mittelfristige und langfristige Maßnahmen zu eruieren.
Dass es einfacher ist, gegen äußere Gegner zusammenzustehen als gegen die Gegner des europäischen Projekts im Innern, zeigte sich am Freitag beim Thema Migration. Belarus schleust seit Wochen Flüchtlinge über die Grenze zur EU als Vergeltung für EU-Sanktionen gegen das Regime von Alexander Lukaschenko. Merkel hatte Lukaschenko deshalb beschuldigt, staatlich organisierten Menschenhandel zu betreiben. Der litauische Präsident Gitanas Nauseda warf Belarus vor, „Flüchtlinge als Waffe zu missbrauchen“. Die EU müsse erwägen, eine physische Grenze zu ziehen und einen Zaun zu bauen. Unterstützt wurde Nauseda etwa von Österreichs Regierungschef. „Mauerbau ist etwas, das mir sprachlich widerspricht, aber wir brauchen einen starken, robusten Außenschutz“, sagte Schallenberg. Wenn Litauen einen Zaun baue, dann sollten dafür nicht nur die litauischen Steuerzahler aufkommen.
Die EU bereitet derzeit weitere Sanktionen vor, und nach stundenlanger Debatte wurde der Abschlusstext noch ergänzt. Man werde sich dem hybriden Angriff durch Belarus widersetzen, auch durch weitere „restriktive Maßnahmen“, hieß es. Außerdem wurde die EU-Kommission dazu aufgefordert, mögliche Änderungen am gemeinsamen Rechtsrahmen sowie konkrete Maßnahmen vorzuschlagen, damit schnell und angemessen auf derlei Angriffe reagiert werden könne. Die EU-Kommission hat sich jedoch bisher geweigert, den Bau von Zäunen oder Drohnenüberwachung finanziell zu unterstützen.