Es ist um die Mittagszeit in Eisenhüttenstadt, als Franziska Giffey die Sätze sagt, die ihre aktuelle Gemütslage vielleicht am besten spiegeln. „Ich bin ja nicht weg. Ich bin ja da“, sagt die Familienministerin. „Und jeder Tag, jede Stunde meines Handelns ist für mich geprägt, auch etwas Gutes für die SPD zu tun.“
In Berlin sind ihr Kabinettskollege Olaf Scholz und die brandenburgische Landtagsabgeordnete Klara Geywitz gerade vor die Bundespressekonferenz getreten und erklären ihre Kandidatur für den SPD-Parteivorsitz. Eigentlich hätte auch Giffey dort sitzen können. Die Familienministein gilt vielen als die letzte Hoffnungsträgerin für die darbende Sozialdemokratie.
Doch da ist diese Sache mit ihrer Doktorarbeit: Seit Monaten prüft die Freie Universität Berlin, ob an dem Vorwurf etwas dran ist, Giffey habe plagiiert. Das Verfahren zieht sich hin, Ausgang: ungewiss. Also musste die 41-Jährige ihre Ambitionen zurückstellen. Mehr noch: Sollte ihr die Doktorwürde aberkannt werden, wird sie auch ihren Kabinettsposten abgeben; das hat sie ihrer Partei vergangene Woche schriftlich mitgeteilt.
Giffey will nicht zur Getriebenen werden. Sie will aufrecht durch diese Krise gehen, das hat sie mit ihrer Entscheidung gegen die Vorsitzkandidatur deutlich gemacht. „Ich weiß, dass es die Erwartung gab, dass ich kandidiere. Aber die ungeklärte Situation ist der Grund dafür, warum ich mich dagegen entschieden habe“, sagt sie. „Ich musste überlegen, was ich der Partei zumuten kann, und wollte das Verfahren zur personellen Neuaufstellung der Partei nicht belasten.“
Giffey wirkt nicht entmutigt, wenn sie solche Sätze sagt. Im Gegenteil. Heiter absolviert sie gerade ihre Sommerreise. Drei Tage, fünf Bundesländer, von Brandenburg bis Niedersachsen, mit einem Programm ganz in ihrem Sinne: Die Bundesministerin agiert wie die Bezirksbürgermeisterin, die sie einmal war. Rausgehen. Mit Leuten sprechen. Zuhören. Empathisch sein. Echt. „Als ich aus Neukölln weggegangen bin, haben die Menschen mir gesagt: Bleiben Sie, wie Sie sind, und vergessen Sie uns nicht“, sagt Giffey. „Mir ist wichtig, dass meine Neuköllner auch heute sagen, dass ich die Alte geblieben bin.“
Auch heute, auch in der Krise, das ist der Unterton. Für viele, die sie jetzt beobachten, ist das tatsächlich ein Phänomen: dass ein Mensch, der so unter Druck steht, gleichzeitig so frei wirkt. Wo sich eine Tür schließt, wird sich eine andere öffnen, das ist ihre Überzeugung. Nicht auszuschließen, dass sich diese Gelassenheit aus ihrer ostdeutschen Anfangsbiografie speist, die sie dieser Tage auffällig oft zum Thema macht – nicht nur, weil ihre Reise unter dem Leitgedanken steht: „Was bewegt die Menschen 30 Jahre nach dem Mauerfall?“
Giffey ist gebürtige Brandenburgerin, aufgewachsen in einem kleinen Ort bei Fürstenwalde. Ihre Familie hat die typischen Nachwendewirren erlebt, inklusive Arbeitslosigkeit und kompletten Neuanfangs. Doch der „Jammerossi“-Typ sei sie nie gewesen, sagt Giffey. „Der Mauerfall war der Glücksfall des letzten Jahrhunderts. Wir sollten mit Dankbarkeit, Stolz und Zuversicht darauf schauen.“
Giffey hat eine steile Karriere hinter sich
Es sorgt sie, dass viele Menschen im Osten so verzagt in die Zukunft blicken, selbst wenn es ihnen materiell gut geht. Giffey selbst war zur Wendezeit erst elf, jung genug, um alle Chancen zu ergreifen, die sich ihr boten. Der Gedanke, dass sie ausgerechnet in Berlin-Neukölln das erste Mal westdeutschen Boden betreten hat, dem 330.000-Einwohner-Bezirk, dem sie Jahre später als Bürgermeisterin vorstehen würde, „das berührt mich heute noch“, sagt sie.
Giffey hat eine steile Karriere hinter sich. Von der Europabeauftragten zur Bildungsstadträtin zur Bezirksbürgermeisterin zur Bundesministerin in wenigen Jahren, dabei noch jung, weiblich, ostdeutsch und beim Wähler beliebt – das hat bei der SPD die Erwartung geweckt, man habe es hier mit einer Wunderwaffe zu tun, geeignet für fast jede politische Aufgabe.
Giffey wurde bereits als mögliche Regierende Bürgermeisterin von Berlin und als nächste brandenburgische Ministerpräsidentin gehandelt. Man braucht nicht unbedingt einen Doktortitel für solche Ämter. Aber die Aberkennung des akademischen Titels kann die politische Karriere schnell beenden. Und so hängt die Entscheidung der Uni wie ein Damoklesschwert über Giffey.
Doch Aufgeben ist ihre Sache nicht. Sie will ihren Job gut machen, solange es noch geht. Also geht sie raus und redet mit der ihr eigenen Freundlichkeit mit den Leuten. Mit dem Bürgermeister der ehemaligen Planstadt Eisenhüttenstadt.
Mit der Leiterin einer Rückkehrerinitiative in Finsterwalde. Mit Erzieherinnen in Riesa, Chemiewerkern in Nünchritz, Rentnern in Radebeul, der Bürgerinitiative in Mödlareuth. Für all ihre Sorgen präsentiert Giffey eine Lösung, auf der irgendwie SPD draufsteht, hinterlässt Werbebotschaften für Respekt-Rente, Pflegeoffensive, familienfreundliches Arbeiten, das Programm „Demokratie leben“. Sie wirkt dabei, als hätte sie noch sehr viel vor.
Am Freitag unterzeichnet Giffey in Halle den Gute-Kita-Vertrag mit Sachsen-Anhalt. Es ist das neunte Bundesland, mit dem sie inzwischen eine Vereinbarung darüber abgeschlossen hat, wie die Bundesmittel für mehr Qualität und weniger Gebühren für Kindertagesstätten in den Ländern verwendet werden.
„Bleiben Sie stark wie ein Bär“
Die Kritik der Opposition daran hält an: Grüne und FDP bemängeln den fehlenden Fokus auf Qualitätsverbesserungen und die Intransparenz der Vertragsverhandlungen. Doch die Familienministerin lächelt auch diesen Gegenwind freundlich, aber bestimmt weg.
Ganz am Anfang ihrer Reise, im brandenburgischen Eisenhüttenstadt, da hat der örtliche Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung, Wolfgang Perske, sie beiseitegenommen. „Bleiben Sie stark wie ein Bär, damit Sie auch die nächsten Wochen und Monate durchhalten“, hat er zu seiner Parteifreundin gesagt.
Und dabei erklärt, dass er überhaupt kein Problem damit habe, wenn Giffey ihren Doktortitel abgeben müsste. Er hätte es gern gesehen, wenn Giffey sich für den SPD-Vorsitz beworben hätte, sagt Perske noch über die Ministerin. „Vom Alter, von der Ausstrahlung und von der Bodenständigkeit her ist sie für uns Ostdeutsche wichtig.“