Stellen Sie sich vor, die Ziehung der Lottozahlen würde bei uns gesungen. Von Heino, Hansi Hinterseer oder den Wildecker Herzbuben. In Spanien muss man sich das nicht vorstellen, dort ist es Realität, obgleich ohne Schlagerheroen.
Stets am 22. Dezember trällern Kinder im Fernsehen die Zahlen und Eurogewinne der weihnachtlichen Mega-Lotterie: in einem derart stereotypen Singsang, dass einem Hören und Sehen vergeht. Wer an diesem Tag als Tourist in Spanien unterwegs ist und die Live-Übertragung miterlebt, droht einen akustischen Kulturschock zu erleiden.
Die Spanier drücken dagegen beide Ohren zu und bleiben wie gebannt vor dem Bildschirm sitzen. Schließlich geht es um den „Dicken“, „El Gordo“, also um den ultimativen Hauptgewinn, der schon ganze Dörfer mit Geld geflutet hat, denn aufgrund der ausgespielten Millionen ist diese Lotterie die größte der Welt.
Das kollektive Warten auf das materielle Glück gehört zur Vorweihnachtszeit in Spanien genauso dazu wie der Lichterglanz in den Städten und Einkaufszentren, die ohne dauernde „Feliz Navidad“-Beschallung nicht denkbar sind.
In Spanien hält man nichts von einer stillen Nacht
Eine weitere Weihnachtstradition sind die Öffnungszeiten der Geschäfte bis zum späten Heiligabend. Zu einer Uhrzeit, da in Mitteleuropa die ersten Festessen bereits verdaut sind, kaufen die Spanier noch massenhaft Last-Minute-Geschenke ein.
Oder sie sind, wie im nordspanischen Pamplona, Zaungäste beim Heiligabend-Umzug. Dann ziehen Kindergruppen in ländlicher Tracht, Hirten, Ochsen, Pferdekarren, Gänse, Schaf- und Ziegenherden durch die Gassen.
Und Tänzer, die mit riesigen Viehglocken auf den Fellwestenrücken markerschütternd dröhnende „Bom, Bom, Bom“-Töne absondern. Mag man anderswo das Fest von der Geburt Christi besinnlich feiern – in Spanien hält man nichts von einer stillen Nacht, Lärm gehört zum Fest unbedingt dazu.
An Weihnachten hockt eine seltsame Figur in der Krippe
Exzessiv mögen es die Spanier auch bei den Essenszeiten, die sich in der Weihnachtszeit, die bis zum Dreikönigstag dauert, bis weit nach Mitternacht dehnen. Schließlich braucht es Stunden, bis Tapas und Suppe, Austern und Schinken, Fisch und Fleisch vertilgt sind.
Den Magen schließt man traditionell mit Turrón, das sind Kalorienbomben in Tafelform, bestehend aus Mandeln, Honig, Zucker und Eiklar. Mal sind die Tafeln ölig weich, mal hart wie aus dem Steinbruch – was beim Abbeißen wunderbar krachend lärmt.
Wenig feierlich geht es auch in so mancher Krippe zu. Dort hockt tatsächlich oft ein Figürchen, das im Beisein der Heiligen Familie freudig sein Geschäft verrichtet, und zwar das große. Cagón wird er genannt, was sich in moderater Form als „Schisser“ übersetzen lässt.
In Katalonien, wo er besondere Verehrung genießt, heißt er Caganer. Eigentlich ist er ein Glücksbringer, der den Boden düngt und fruchtbar hält. Die Krippensonderfigur gibt es in manchen Familien als Bauer, Engel oder Kirchenmann.
Progressivere Spanier stellen sich dagegen gern Politiker als Cagón in die Krippe. In diesem Jahr besonders beliebt sind Donald Trump, Recep Tayyip Erdogan und Kim Jong-un. Ob diese Figuren tatsächlich Glück bringen? Das wird sich am 6. Januar 2020 erweisen, dann steigt nämlich die Dreikönigslotterie.
2,4 Milliarden Euro wurden bei der Weihnachtslotterie 2017 ausgeschüttet:
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